Nur der Placebo-Effekt? Understand article

Übersetzt von Veronika Ebert, Höhere Bundeslehr- und versuchsanstalt für chemische Industrie, Wien. Wenn der Arzt Tabletten verschreibt und Sie sich besser fühlen – lag es wirklich am Medikament, oder könnte es nur die Farbe der Tablette gewesen sein? Andrew Brown untersucht den…

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Im Jahr 1796 ließ der amerikanische Arzt Elisha Perkins die sogenannten “Perkinschen Nadeln” patentieren. Perkins behauptete, sie könnten “das ungesunde elektrische Medium, das die Ursache alles Leidens ist, vertreiben.” Dazu wurden die beiden Metallnadeln über dem Körper des Patienten/der Patientin geschwenkt. Berichte über die Wirkung dieser Nadeln erweckten die Aufmerksamkeit des britischen Arztes John Haygarth, der in kontrollierten Experimenten nachweisen konnte, dass nicht nur die Perkinschen Nadeln, sondern auch hölzerne Kopien Symptome lindern können. Er konnte als Erster nachweisen, dass pharmakologisch inaktive Stoffe therapeutisch wirksam sein können. Diese Wirkungen werden heutzutage als Placebo-Effekt bezeichnet.

Die Perkinschen Nadeln
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Der Placebo-Effekt wir häufig eher als psychologisches, denn als physiologisches Phänomen gesehen – die PatientenInnen glauben nur, dass es ihnen besser geht. In klinischen Versuchen konnte gezeigt werden, dass diese Erklärung nicht ausreicht. In einer schwedischen Herzstudie wurden der Placebo-Kontrollgruppe die gleichen Herzschrittmacher eingepflanzt wie der Behandlungsgruppe. Die Herzschrittmacher der Placebo-Gruppe wurden aber – ohne Wissen der Betroffenen – abgeschaltet. Erstaunlicherweise besserten sich die Symptome beider Gruppen nach drei Monaten. Noch erstaunlicher war, dass die Verbesserungen der Placebo-Gruppe von den WissenschafterInnen auch tatsächlich gemessen werden konnten: die Transportleistung des Herzens hatte zugenommen (Linde et al., 1999).

Abbildung 1: Der
psychosoziale Kontext setzt
sich aus unterschiedlichen
Faktoren zusammen, die den
Ablauf einer Therapie
symbolisieren. Ein
materielles Placebo (z.B. eine
Zuckertablette) ist nur einer
dieser Faktoren. In der hier
gezeigten Szene werden die
Sinnesorgane des Patienten
(Sehen, Schmecken, Berühren
und Hören) mit Reizen
bombardiert. Zum
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Wie ist das möglich? „ Der Placebo-Effekt ist ein reales neurobiologisches Phänomen, bei dem sich etwas im Gehirn der Patienten verändert“, erklärt Fabrizio Benedetti, Professor für Physiologie und Neurowissenschaften und weltweit anerkannter Experte für den Placebo-Effekt. Diese Veränderungen werden nicht durch die Inhaltsstoffe des Placebos hervorgerufen, sondern durch seine Bedeutung. In einer Behandlungssituation gibt es viele symbolische Faktoren, die Benedetti als “psychosozialen Kontext” bezeichnet (Abbildung 1). „Der Blick und die Worte des Arztes/der Ärztin, der Geruch der Medikamente, die Spitalsmaschinerie: All diese sensorischen und sozialen Reize signalisieren dem Patienten, dass er therapiert wird. Die daraus abgeleiteten Erwartungen an eine therapeutische Wirkung lösen den Placebo-Effekt aus.

Der psychosoziale Kontext kann auch die Art und die Stärke des Placebo-Effekts bestimmen. So beeinflussen z.B. die Zahl, die Farbe und die Verpackung von Tabletten ihre Wirkung (Details zu den Forschungsarbeiten, die zu diesen Erkenntnissen geführt haben, findet man in weiterführenden Onlineinformationenw1). In einer US-Studie, bei der der einen Hälfte der ProbandenInnen unwirksame Zuckertabletten verabreicht wurden, die andere Hälfte mit einer Scheinakupunktur (die Nadeln haben die Haut nicht durchstoßen) behandelt worden ist, führte die Scheinakupunktur zu einer signifikant besseren Schmerzlinderung als die Zuckertabletten. Die Zuckertablette förderte dagegen den Schlaf der PatientenInnen (Kaptchuk, 2006).

Auf welche Art und Weise bewirkt der psychosoziale Kontext neurobiologische Veränderungen im Gehirn? Wenn der Patient eine Behandlung erwartet, werden Neurotransmitter freigesetzt. Diese binden an die jeweiligen Neurotransmitterrezeptoren, wodurch im Gehirn und anderen Organen weitere Substanzen freigesetzt werden. Darunter zum Beispiel Hormone, Immunmediatoren, und zusätzliche Neurotransmitter, die weitreichende physiologische Wirkungen haben und einen therapeutischen Effekt erzielen können.

Benedettis Studien über Schmerz und motorische Störungen zeigen, dass verschiedenste neurobiologische Veränderungen auftreten können: „Wenn man Schmerzlinderung erwartet, werden endogene Opiate freigesetzt. Wenn man eine Verbesserung der Motorik erwartet, wird ein ganz anderer Neurotransmitter, nämlich Dopamin, freigesetzt.“ (Abbildung 2)

Abbildung 2: Wenn man Parkinson-PatientenInnen, die zu geringe Dopaminkonzentrationen im Gehirn aufweisen, sagt, dass sich ihre Motorik verbessern wird, schüttet eine als dorsales Striatum bezeichnete Gehirnregion erhebliche Dopaminmengen aus (de la Fuente-Fernández & Stoessl, 2002). Die Abbildung zeigt die PET (Positronenemissionstomografie)aufnahme eines Parkinsonpatienten. Erkennbar ist die Menge an radioaktiv markiertem Racloprid, einer Substanz, die ebenso wie Dopamin an Dopaminrezeptoren bindet und mit diesem um die Bindungsstelle streitet, vor (links) und nach (rechts) der Gabe eines Placebos. Die schwächer werdende rote Färbung (rechts) zeigt, dass die Menge an Dopamin ansteigt
Nach de la Fuente-Fernández R, Stoessl AJ. (2002) The placebo effect in Parkinson’s disease. Trends in Neuroscience25(6): 302-306. doi: 10.1016/S0166-2236(02)02181-1. Copyright 2002, mit Genehmigung des Elsevier-Verlags

„Die entscheidende Frage ist aber, wie die Erwartungshaltung des Gehirns zur Freisetzung bestimmter Neurotransmitter führen kann“, erklärt Benedetti.“ Obwohl der Wissenschaftler eingesteht, dass es auf diese Frage im Moment keine endgültige Antwort gibt, sind zwei mögliche Mechanismen genauer untersucht worden (Abbildung 3):

Abbildung 3:Der Placebo-Effekt: von psychosozialen Zusammenhängen zu therapeutischen Effekten. Der psychosoziale Kontext lässt den Patienten eine therapeutischen Wirkung erwarten. In Folge werden durch bewusste und/oder unbewusste Vorgänge neurobiologische Prozesse ausgelöst, die zur Freisetzung von Effektormolekülen führen. Diese bewirken physiologische Reaktionen im Gehirn und anderen Organen. Dadurch kann eine therapeutische Wirkung eintreten
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  1. Klassische (oder Pawlowsche) Konditionierung, ein unbewusster Mechanismus. Benedetti erläutert: „Wenn man ein Placebo das erste Mal verabreicht, gibt es nur eine schwache, oder gar keine Reaktion. Wenn man aber, beispielsweise fünf Tage hintereinander, Morphium spritzt, und dieses dann durch eine Salzlösung als Placebo ersetzt, kann man wetten, dass hundert Prozent der PatientenInnen darauf ansprechen.“ Das Gehirn der PatientenInnen ist konditioniert worden, als Antwort auf eine Injektion Botenstoffe auszuschütten, die mit den gleichen Zielmolekülen wie Morphium interagieren. Möglicherweise ist die als dorsolateraler präfrontaler Cortex bezeichnete Gehirnregion für den Konditionierungseffekt verantwortlich (Abbildung 4).
  2. Ein zweiphasiger bewusster Mechanismus:
    1. Die Erwartung einer Belohnung: Der Patient erwartet, dass sich sein Zustand verbessert, das Belohnungs-Netzwerk in der als Nucleus accumbens bezeichneten Gehirnregion mit der Bezeichnung wird aktiviert. Der Nucleus accumbens ist Teil eines Gehirnabschnitts, der aktiviert wird, wenn man auf Nahrung, Geld, Sex, oder sogar Humor hofft. (Abbildung 4; Hayes, 2010).
    2. Die Modulation von Angst: Sie läuft im Angst-Netzwerk des Gehirns ab, an dem viele Gehirnregionen, wie zum Beispiel der orbitofrontale Cortex beteiligt sind. „Wenn ich dich behandle und dazu sage, dass sich deine Angst reduzieren wird, werden Neurotransmitter im Gehirn frei gesetzt“, erklärt Benedetti.
Abbildung 4: Schematische Abbildung des Gehirns von der Seite, erkennbar sind jene Gehirnregionen, die am Konditionierungsreflex beteiligt sind (der dorsolaterale präfrontale Cortex), und Regionen, die in die Belohnungs- und Angstmechanismen involviert sind (Nucleus accumbens beziehungsweise orbifrontaler Cortex)
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Sowohl das Angst-, als auch das Belohnungnetzwerk kontrollieren viele biochemische Stoffwechselwege und die zuständigen Organe. Bei der Studie mit den abgeschalteten Herzschrittmachern vermutet man, dass sich die Symptome der PatientenInnen der Placebogruppe verbessert haben, weil ihre Angstgefühle reduziert worden sind, wodurch geringere Mengen an Katecholamin-Stresshormonen, die die Herzfunktion beeinflussen, produziert worden sind.

Die Forschung über den Placeboeffekt steckt noch immer in den Kinderschuhen; Die spannendsten Ergebnisse wird vermutlich die Erforschung des Placebo-Effekts bei konventionellen Behandlungen erzielen. Benedetti hat bereits begonnen, den Placebo-Effekt richtiger Medikamente zu untersuchen. So konnte er mit einem Versuch zeigen, dass die postoperativen Schmerzen von PatientenInnen durch die Injektion des hochwirksamen schmerzlösenden Metamizols gelindert werden konnten, während Metamizol völlig wirkungslos war (Colloca & Benedetti, 2005), wenn die Zufuhr (durch Abdeckung mit einem Schlauch) versteckt ablief.

Die Erkenntnis, dass die Wirksamkeit von Medikamenten so fundamental vom Kontext, in dem sie verabreicht werden, abhängt, ist revolutionär. Die Zunft der Mediziner steht vor der Herausforderung, den Placebo-Effekt effektiv und ethisch vertretbar auszunutzen.

Themen für Diskussionen

  • Wäre es ethisch vertretbar, dass Ärzte ihren PatientenInnen ein Placebo verschreiben?
  • Sollte die Schulmedizin den Placebo-Effekt intensiver nutzen?
  • Wie könnte der Placebo-Effekt die Wirkung von an sich wirkungslosen Alternativtherapien erklären?
  • Einer deiner Freunde behauptet eine Behandlung für Pickel erfunden zu haben. Wie würdest du ein Experiment gestalten, mit dem herausgefunden werden kann ob die beobachtete Verbesserung auf die Behandlung selbst, oder auf den Placebo-Effekt zurückzuführen ist?
  • Was kannst du über das negative Pendant des Placebo-Effekts, den Nozeboeffekt in Erfahrung bringen, bei dem eine negative Erwartungshaltung zu unerwünschten Symptomen führen kann, ohne dass es dafür eine körperliche Ursache gibt?
  • Manche Menschen reagieren stark auf Placebo-Effekte, andere nicht. Welchen evolutionären Vorteil könnte eine starke Reaktion bieten?

Danksagungen

Der Artikel basiert auf einem Interview und einem Vortragw2 von Fabricio Benedetti, Professor für Physiologie und Neurowissenschaften an der medizinischen Universität und dem Nationalen Institut für Neurowissenschaften, am European Molecular Biology Laboratory (EMBL) in Heidelberg, Deutschland.


References

  • Colloca L, Benedetti F (2005) Placebos and painkillers: is mind as real as matter? Nature Reviews Neuroscience 6: 545-552. doi: 10.1038/nrn1705
  • de la Fuente-Fernández R, Stoessl AJ (2002) The placebo effect in Parkinson’s disease. Trends in Neurosciences 25(6): 302-306. doi: 10.1016/S0166-2236(02)02181-1
  • Hayes E (2010) Die Wissenschaft des Humors: Allan Reiss. Science in School 17. www.scienceinschool.org/2010/issue17/allanreiss/german
  • Kaptchuk T (2006) Sham device versus inert pill: randomised controlled trial of two placebo treatments. British Medical Journal 332: 391-394. doi: 10.1136/bmj.38726.603310.55
  • Linde C et al. (1999) Placebo effect of pacemaker implantation in obstructive hypertrophic cardiomyopathy. PIC study group. Pacing in cardiomyopathy. American Journal of Cardiology 15: 903-907. doi: 10.1016/S0002-9149(98)01065-0

Web References

  • w1 – Weiterführende Informationen mit Details zu den Studien über den Placeboeffekt sind als Word oder PDF Format herunterladbar.
  • w2 – Ein Video über Fabrizio Benedettis Vortrag ist auf der EMBL-Webseite (www.embl.de) abrufbar; direkter Link: http://tinyurl.com/3tc4tf5

Resources

  • Ein zweiteiliger Radiobeitrag vom Arzt und Wissenschaftsjournalisten Ben Goldacre über den Placebo-Effekt und seine Einsatzmöglichkeiten in der Schulmedizin ist unter : www.bbc.co.uk/radio4/science/placebo.shtml abrufbar
  • Eine Zusammenfassung von Ben Goldacres Buch Bad Science, das ein faszinierendes Kapitel über den Placebo-Effekt enthält, findet sich in:
  • Einen brillanten Artikel, der den verheerenden Schaden beschreibt, den der Placebo-Effekt in der pharmazeutischen Industrie angerichtet hat, findet sich in:

Author(s)

Andrew Brown hat kürzlich sein Studium der Molekular- und Zellbiologie an der University of Bath, Grossbritannien abgeschlossen. Während seiner Ausbildung hat er ein Jahr pausiert, um für Syngenta, eine Firma für Agrochemikalien zu arbeiten. Er war dabei auf Licht- und Elektronenmikroskopie spezialisiert. Jetzt arbeitet er für Science in School, am European Molecular Biology Laboratory, Deutschland.

Review

Obwohl die meisten das Wort “Placebo” kennen, wissen doch sehr viele nicht so genau, was es bedeutet. Der Autor hilft den LeserInnen den Placebo-Effekt und seine Auswirkungen zu verstehen. Darunter auch die komplexen Wege, die für die Verbesserung des Befindens der PateientenInnen verantwortlich sind.

Der Artikel eignet sich am besten für die Bearbeitung des Nervensystems in höheren Jahrgängen einer höheren Schule. Die vorgeschlagenen Unterrichtsaktivitäten werden besonders für Lehrkräfte interessant sein. Die zur Verfügung gestellten Fragen könnten sich für den Biologieunterricht für Klassendiskussionen eignen, oder auch als Aufgabenstellung für Hausübungen. Da sich der Artikel nicht nur mit wissenschaftlichen Fragen beschäftigt, sondern auch ethische Fragen berührt, bietet er auch eine exzellente Diskussionsgrundlage für den Psychologie- und den Sozialwissenschaftsunterricht.

Michalis Hadjimarcou, Zypern

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