Übersetzt von Ute Römling.
Dasselbe Molekül, das mächtige Bäume am Stehen hält, hat auch die ersten vielzelligen Lebensformen mitgeprägt- und wird sogar zur Herstellung von köstlichen Gaumenfreuden verwendet.
Könnt Ihr das am häufigsten vorkommende Makromolekül der Erde benennen? Ist es vielleicht ein synthetisches Polymer? In der Tat begegnen wir diesem Molekül vor allem in der Natur - zum Beispiel bei einem Spaziergang durch den Wald. Denn das gesuchte Molekül ist Zellulose - die Substanz, die von allen Pflanzen zur strukturellen Unterstützung produziert wird.
Die Pflanzen der Erde produzieren jedes Jahr die fast unvorstellbare Menge von mindestens 100 Milliarden (1011) Tonnen Zellulose – das ist hundertmal mehr als die Menge aller produzierten Kunststoffe. Abgesehen davon, dass Zellulose reichlich vorhanden ist, ist die von Pflanzen produzierte Zellulose äußerst nützlich. Vielleicht lest ihr diesen Artikel auf einem Stück Papier, das auf Zellulosebasis hergestellt wurde. Auch unsere Kleidung besteht zu grossen Teilen aus Zellulose, zum Beispiel tragen wir T-Shirts und Jeans aus Baumwolle. Unsere Möbel zu Hause bestehen zumeist aus Holz, das hauptsächlich aus Zellulose besteht und einige von uns leben sogar in Holzhäusern. Viele Menschen nutzen Holz auch als Energiequelle, um ihre Häuser zu heizen und können sich zusätzlich an der zeitlosen Attraktivität eines echten Feuers erfreuen. Auch als Biokraftstoff ist Holz eine wichtige erneuerbare Energiequelle.
Die Zellulose ist trotz ihrer enormen Molekülgröße ein überraschend einfaches Molekül: dieses Makromolekül (also ein riesiges Molekül) baut sich nämlich ausschließlich aus Monomeren des Zuckers Glukose auf. Dabei bilden mehrere tausend Glukosemoleküle ein einzelnes Makromolekül Zellulose. Der Baustein dafür, die Glukose, wird von den Pflanzen selbst aus Kohlendioxid und Sonnenlicht über den Prozess der Photosynthese hergestellt.
Ein Zellulosemakromolekül besteht aus einem Bündel einzelner Glukanketten. Jede Glukankette besteht aus Zellobiose-Molekülen, die sich aus zwei spezifisch verbundene Glukosemoleküle zusammensetzen (Abbildung 1). Die linearen Glukanketten assoziieren miteinander durch Wasserstoffbrückenbindungen, und dabei verleiht die große Anzahl dieser schwachen Bindungen der Zellulose ihre besonderen Eigenschaften. Durch die lineare parallele Anordning der Glukanketten schliesst die Zellulose, zum Beispiel, in grossem Stil Wassermoleküle aus, und behält dadurch ihre strukturellen Eigenschaften auch unter feuchten Bedingungen bei. Darüber hinaus macht die Vielzahl der Wasserstoffbrückenbindungen das Molekül resistent gegen chemische Angriffe selbst durch starke Säuren und Basen (Ross et al., 1991).
Die oben beschriebenen nützlichen Eigenschaften führen dazu, dass Zellulose nicht nur in Pflanzen, sondern auch anderswo in der Welt der Organismen gefunden wird. Einige Pilze haben eine Zellwand aus Zellulose (obwohl die Zellwand bei den meisten Pilzen aus Chitin, einem anderen reichlich vorhandenen Makromolekül, hergestellt wird). Zellulose wird auch von Algen, einigen Amöben und sogar einigen wirbellosen Tieren (meist marinen Wirbellosen, sogenannten Manteltieren) produziert. So unterstützt Zellulose beispielsweise die Larven der Seescheide bei der Morphogenese zum erwachsenen Organismus. Im ausgewachsenen Tier ist Zellulose dann Bestandteil der "Tunika", einer Art Exoskelett der Manteltiere. Die soziale Amöbe entwickelt sich bei Nährstoffknappheit von der einzelligen Lebensform zu einem mehrzelligen, pilzartigen Organismus, wobei Zellulosefasern in den Stiel und in die Sporen eingebaut werden.
Vielleicht überrascht einige Leser, dass auch Bakterien Zellulose produzieren können (Ross et al., 1991; Zogaj et al., 2001). Vor allem die vollständige Sequenzierung einer Vielzahl von Bakteriengenomen hat gezeigt, dass die Fähigkeit zur Zelluloseproduktion in einer Anzahl von Bakterienarten vorhanden ist. Die Präsenz der genetischen Information zur Zelluloseproduktion reicht dabei von evolutionär alten thermophilen Bakterien bis zu pflanzenassoziierten Mikroorganismen sowie zu Bewohnern unseres Gastrointestinaltraktes (Römling & Galperin, 2015). Die letzte Gruppe umfasst zwei allseits bekannte Magen-Darm-Besiedler, kommensale E. coli und pathogene Salmonellen (Escherichia coli, Salmonella typhimurium).
Aber warum stellen Bakterien eigentlich Zellulose her? Dieses Makromolekül, das so stark mit festigenden strukturellen Eigenschaften in Pflanzen assoziiert ist, hilft Bakterien auch dabei, sich an eine überraschend breite Palette von unterschiedlichen Umweltbedingungen anzupassen. So unterstützt Zellulose in pflanzenassoziierten Bakterien die Festheftung an die Pflanzenoberfläche – und im Falle pathogener Bakterien bindet Zellulose die Organismen fest an die Wirtszellen um damit das erfolgreiche Auslösen der Infektion zu erleichtern. Einige in salzhaltigen Quellen lebende Bakterien, einschließlich thermophiler Arten und Cyanobakterien, produzieren Zellulose vermutlich unter anderem zum Schutz vor Austrocknung und anderweitigen schädlichen Umwelteinflüssen wie ultraviolettem Licht und Desinfektionsmitteln.
Cyanobakterien könnten in der Tat den Pflanzen die Fähigkeit vermittelt haben, Zellulose herzustellen. Im Laufe der Evolution wurden diese Bakterien als Chloroplasten in die Pflanzenzellen integriert und brachten dabei die für die Zelluloseproduktion erforderliche genetische Information mit. Im Genom der heutigen Pflanzen werden daher sehr ähnliche Gene gefunden (Nobles et al., 2001). Aber wie konnte dieser sogenannte horizontale Gentransfer vonstattengehen? Die Endosymbiontentheorie legt nahe, dass vor etwa einer Milliarde Jahren freilebende photosynthetische Cyanobakterien von den Vorfahren der heutigen Algen einverleibt wurden. Diese Symbiose brachte offenbar den neuen kombinatorischen Organismen einen solchen enormen evolutionären Vorteil, so dass sie sich zu den breitgefächerten Photosynthese-betreibenden Pflanzen- und Algenarten entwickeln und diversifizieren konnten. Obwohl die heutigen Chloroplasten den Großteil ihrer ursprünglichen Gene verloren haben, weist das Genprodukt der Zellulosesynthase (dem Enzym, das zur Herstellung von Zellulose benötigt wird), trotz der lange zurückliegenden Übertragung auf das Pflanzengenom, immer noch eine auffällig hohe Ähnlichkeit mit seinem Gegenstück in modernen Cyanobakterien auf. Diese Tatsache unterstützt die Theorie des horizontalen Gentransfers der Zellulosesynthase von Cyanobakterien zu Pflanzen.
Einer der Hauptgründe, warum Bakterien Zellulose produzieren, ist die Organisation in "Biofilmen". Biofilme sind multzelluläre mikrobielle Lebensgemeinschaften, die durch eine selbstproduzierte extrazelluläre Matrix zusammengehalten werden. Unter anderem kann diese Matrix aus Zellulose bestehen. Diese (cyano)bakteriellen Lebensgemeinschaften waren einige der ersten Formen von mehrzelligem Leben auf der Erde und werden auf etwa 3,1 Milliarden Jahre zurückdatiert. Auch heute pflegen die meisten Mikroorganismen einen multizellulären Lebensstil. Dabei ist die Biofilmbildung der Gewebebildung in höheren Organismen bemerkenswert ähnlich und dient unter anderem vermutlich dazu, Nährstoffe effizienter zu nutzen.
Zelluloseproduktion ermöglicht es Bakterien, mit höheren Organismen wie Pilzen, Pflanzen und Tieren zu interagieren. Bei der Infektion eines Organismus mit hoch pathogenen Bakterien stellt die Biofilmbildung einen Mechanismus für die Bakterien bereit, die Virulenz (d.h. die Schwere) der Infektion zu kontrollieren. Bei chronischen Infektionen findet jedoch eine Deregulation der bakteriellen Biofilmmatrix statt. Diese setzt die Virulenz herab und ermöglicht so eine Koexistenz zwischen dem Wirt und den Bakterien (Pontes et al., 2015; Ahmad et al., 2016).
Kombucha-Tee besitzt ein
Pellet aus bakterieller
Zellulose, das
Mikroorganismen beinhaltet.
Römling & Galperin (2015)
Im Gegensatz zu pflanzlicher Zellulose hat bakterielle Zellulose einige sehr spezielle Eigenschaften, die auch Gegenstand akueller Forschung sind. Zu erwähnen wäre unter anderem; bakterielle Zellulose ist besonders rein; sie besitzt eine große Oberfläche und ein ausgeprägtes Rückhaltevermögen für Feuchtigkeit; zusätzlich ist bakterielle Zelluose ein natürliches Nanomaterial. Auch hinsichtlich ihres wirtschaftlichen Wertes ist die bakterielle Zellulose sehr vielversprechend. Dabei werden einige bakterielle Zelluloseprodukte bereits kommerziell hergestellt. Beispielsweise:
Dieses uralte Naturmaterial könnte somit auf dem besten Wege sein, ein ‘Supermaterial’ für die Zukunft zu warden. Dieses Beispiel zeigt wieder einmal, wie Bakterien Menschen unterstützen können, anstatt ihnen zu schaden.