Evolution in Echtzeit – das 67000 Generationen- Experiment Understand article

Übersetzt von Veronika Ebert. Ein einzigartiges Experiment verfolgt Mikroorganismen über tausende Generationen – die Evolution kann im Zeitraffer beobachtet werden.

Für mich als Evolutionsbiologen erscheint es passend, die Beobachtung der Evolution mit jener von Sternen zu vergleichen. Kein Astronom/keine Astronomin lebt lange genug, um die Geburt eines Sterns, sein Altern und seinen Tod selbst beobachten zu können. So hat z.B. die Sonne eine Lebensdauer von etwa 10 Milliarden (1010) Jahren – ein Zeitraum, der in keinerlei Verhältnis zum menschlichen Leben steht. Da das Universum aber voll mit Sternen ist, alleine Millionen von ihnen in der Milchstraße, können Astronomen/innen viele Sterne in unterschiedlichen Stadien ihres Lebenszyklus beobachten. Durch derartige Untersuchungen können genügend Daten gewonnen werden um die unterschiedlichen Lebensstadien eines Sterns beschreiben und ihre ganze Entwicklung verstehen zu können

Evolutionsbiologen/innen leben auch nicht länger als Astronomen/innen, und so hat kein einziger/keine Einzige die Veränderung einer Wirbeltierart beobachten können, die zur Entwicklung von zwei oder mehreren Arten führte. Wir können aber – genauso wie Astronomen/innen – die Tatsache, dass es Millionen von Arten auf der Erde gibt, die sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten von anderen abgespalten haben, erforschen und wir haben Zugang zu den Relikten dieser Ereignisse in Gesteinen und im genetischen Material lebender und toter Organismen.

Ammonit am Strand von Dorset, Großbritannien. Der als Juraküste bekannte Ort ist reich an Fossilien.
Paul Williams/Flickr
 

In dieser Hinsicht haben Evolutionsbiologen/innen, die sich mit Mikroorganismen beschäftigen, Vorteile gegenüber Biologen/innen, die sich auf komplexere Arten wie Wirbeltiere konzentrieren: Die Vermehrungs- und Mutationsraten von Mikroorganismen sind so hoch, dass ihre Evolution im Zeitraffertempo abläuft. In diesem Artikel beschreiben wir ein außergewöhnliches Experiment, bei dem die Evolution des Bakteriums Escherichia coli über unvorstellbare 67 000 Generationen verfolgt wird. Umgelegt auf die Generationsdauer des Menschen entspricht diese Zahl in etwa einer Million Jahre – ein Zeitraum, der uns locker vor die Entstehung unserer eigenen Art, den Homo sapiens, zurückversetzt. Bei der Verwendung von E.coli, dessen Zellen sich sechs oder sieben Mal pro Tag verdoppeln, passiert das Gleiche in weniger als 30 Jahren.

Aber wie können aus der Beobachtung von Mikroorganismen Rückschlüsse auf die Evolution anderer Arten, oder sogar des Menschen selbst gezogen werden? Schauen wir uns zuerst einmal an, was eigentlich unter „Evolution“ verstanden wird.

Was ist Evolution?

Unter Evolution versteht man jede Veränderung in der Anzahl genetischer Varianten (Allele) innerhalb einer Gruppe von Organismen der gleichen Art (Population) von einer Generation zur nächsten. Für die Evolution sind verschiedene Mechanismen verantwortlich, darunter die Abwanderung (wenn eine Gruppe neuer Individuen zu einer bestehenden Population dazu kommt oder sie verlässt), oder einfach die Reproduktionschance einzelner Individuen im Vergleich zu anderen. Der bekannteste Mechanismus, der oft mit der eigentlichen Evolution verwechselt wird, ist die positive natürliche Selektion: Ein Mechanismus, bei dem die Individuen einer Art mit einer ganz bestimmten Allelkombination mehr Nachkommen hervorbringen als Individuen mit anderen Kombinationen, was zur Anpassung der jeweiligen Art führt.

Die auffällige gelb-schwarze Färbung von Feuersalamandern ist vorteilhaft für die natürliche Selektion, weil die Tiere dadurch getarnt sind, und auch potentielle Räuber gewarnt werden.
Marcin Bajer/Flickr
 

Viele Allelveränderungen verursachen gar keine Entstehung einer neuen Art – aber wenn eine Abspaltung erfolgt, ist das immer das Ergebnis vieler verschiedener, in der neu entstandenen Population akkumulierter genetischer Unterschiede. Aus der Untersuchung solch fundamentaler evolutionärer Mechanismen können Erkenntnisse über die Funktionsweise der Evolution gewonnen werden, z.B.  wie genetische Unterschiede überhaupt entstehen und sich dann in einer Population verbreiten oder wieder verschwinden, und wie sie die Fitness (ein Maß für den Fortpflanzungserfolg) von Organismen beeinflussen. Die Untersuchung der evolutionären Mechanismen der Evolution ist einfacher und schneller, wenn Mikroorganismen verwendet werden

Das Diagramm zeigt a fiktives Beispiel der zeitlichen Entwicklung von fünf verschiedenen Allelen (farbige Linien) in einer Population. Die Allele tauchen zu verschiedenen Zeitpunkten auf und verändern ihre Frequenz in unterschiedlichem Ausmaß. Entweder verschwinden sie dann wieder (blaue, graue und braune Linien), oder breiten sich auf die gesamte Population aus (gelbe und grüne Linie). 

LTEE: ein extrem langes Experiment

Das Experiment mit dem Ziel die bakterielle Evolution in Echtzeit zu beobachten ist als E.coli Langzeitexperiment bekannt, kurz LTEE (für „long-term evolution experiment“). Bei dem am 24. Februar 1988 gestarteten Experiment wird die zeitliche Entwicklung von E. coli-Populationen verfolgt, um feststellen zu können, welche Veränderungen in ihren Genomen auftreten, und welche Bedeutung diese für die Eigenschaften des Organismus haben.

Am Beginn des Experiments setze Richard Lenski an der Michigan State University, USA, 12 Kolben mit einem Kulturmedium für Bakterien an, das nur die absolut notwendigen Nährstoffe für das Überleben der Bakterien liefert. Diese 12 Kolben wurden alle mit der gleichen E.coli-Kultur beimpft und bei 37oC bebrütet. Am nächsten Tag entnahm er jedem Kolben eine kleine Menge Kultur, verdünnte sie mit frischem Kulturmedium und bebrütete sie erneut über Nacht. Die alten Kulturen wurden verworfen. Dieser Vorgang wurde seit damals täglich wiederholt – bisher an mehr als 10 000 Tagen.

Einige der Tausenden Petrischalen mit Kulturen, die den Kolben zur Analyse entnommen worden sind. Vor den Kolben steht Zachary Blount, ein Mastersstudent von Richard Lenski.
Zachary Blount, Michigan State University
 

Und wie können die LTEE-Forscher/innen jetzt herausfinden, ob sich die E.coli entwickeln – und wenn ja, in welche Richtung? Alle 75 Tage (etwa 500 Generationen) wird eine Probe jedes Kolbens entnommen und so eingefroren, dass sie bei Bedarf wieder in Petrischalen zum Leben erweckt und analysiert werden können. Bei jeder Analyse untersuchen die Forscher/innen die DNA des Genoms der unterschiedlichen E.coli-Stämme und kartieren die genetischen Unterschiede, die in jedem Kolben gegenüber der zuvor eingefrorenen Generation entstanden sind. Besonders wichtig ist, dass sie auch vergleichen, wie gut sich die Stämme aus verschiedenen Kolben und von verschiedenen Zeitpunkte vermehren, wenn sie miteinander konkurrieren, da die Wachstumsrate ein guter Indikator für die evolutionäre Fitness ist: Bakterien, die rascher wachsen und sich somit rascher vermehren sind – in evolutionärer Hinsicht – fitter.

Durch diese Analysen könnten Richard Lenski und seine Kollegen/innen die Beziehung zwischen den in E.coli entstandenen Mutationen und ihren Auswirkungen auf die Fitness – und somit die Evolution – feststellen. Einige dieser Befunde sind in Abbildung 1 dargestellt.

Abbildung 1: Diagramm, das die zeitliche Veränderung der relativen Fitness (Wachstumsrate) einer E.coli-Population zeigt (adaptiert von Wiser et al., 2013)
 

Die vertikale Achse zeigt die mittlere Wachstumsrate der Bakterien-Populationen aus sechs Kolben, bezogen auf die Fitness der Bakterien zu Beginn des Experiments (d.h. um wie viel besser oder schlechter die späteren Kulturen im Vergleich zur ursprünglichen wuchsen). Die horizontale Achse zeigt die Generationszahl. Dabei zeigt sich, dass die Wachstumsrate in früheren Generationen sehr stark ansteigt, ein Zeichen dafür, dass die früh auftretenden Mutationen große Auswirkungen hatten. Spätere Veränderungen zeigten geringere Auswirkungen, aber die Bakterien passten sich weiter an. Es gibt keine einzelne ideale DNA-Sequenz, die eine perfekte Fitness in dieser Umgebung garantiert, sondern eher einen Weg, auf dem die Bakterien ihre Fitness zunehmend verbessern.

Zusätzlich wurde beobachtet, dass zwei unübliche mutierte Stämme aufgetreten sind. Einer von ihnen bildete sich unabhängig voneinander in drei Populationen zwischen der 2500. und der 8500 Generation. Dieser wurde „hypermutierender Stamm“ genannt, weil sich seine DNA viel rascher veränderte als die DNA anderer Stämme. Der hypermutierende Stamm erreichte früher eine erhöhte Fitness als andere Stämme (Abbildung 2), da mehr Mutationen – mehr genetische Varianten des Genoms – dazu führen, dass günstige, für erhöhte Fitness verantwortliche Varianten, entstehen.

Abbildung 2: Diagramm, dass die Entstehung des hypermutierenden Stamms (grün) und seine relative Fitness gegenüber den Stämmen mit normalen Mutationsraten (gelb) in der jeweiligen Generation zeigt (adaptiert von Wiser et al., 2013)
 

Die zweite von Lenski und seinem Team entdeckte Mutante war sogar noch eindrucksvoller (Blount et al., 2012). In der 31 000 Generation trat ein Stamm, auf, der viel rascher gewachsen ist als jeder andere zuvor. Eine sorgfältige Untersuchung dieses mutanten Stamms ergab, dass er statt der kleinen Menge Glucose im Medium einen anderen Stoff, nämlich Citrat, als Hauptnährstoff nutzten konnte. Die Nachkommen dieser Mutante eroberten rasch den ganzen Kolben, und die Mutation, die den Bakterien die Nutzung von Citrat (siehe Abbildung 3) ermöglichte, setzt sich in der gesamten Population durch – ein eindeutiges Beispiel für die Entstehung und Verbreitung einer vorteilhaften Mutation: Das ist positive natürliche Selektion in Echtzeit.

Kolben mit Kulturen nach der Entstehung der vorteilhaften Citrat-Mutante. Der mittlere Kolben im Vordergrund enthält die Citrat-Mutante. Der Inhalt ist durch die große Bakterienzahl trüb.
Brian Baer und Neerja Hajela, Michigan State University
 
Abbildung 3: Wie eine Mutation im Genom von E.coli die dauerhafte Nutzung von Citrat ermöglicht (adaptiert von Blount et al., 2012).

Stadium: Ursprüngliche Anordung des Genomabschnitts, der die Verwertung von Citrat nur in Anwesenheit von Sauerstoff ermöglichte. Das citT-Gen kodiert für ein Protein, das Citrat in die Zelle transportiert. In Anwesenheit von Sauerstoff ist dieses Gen inaktiv und das korrespondierende Protein wird nicht erzeugt.

2 Stadium: Verdoppelung dieses Genomabschnitts.

3: Stadium: Nach der Genverdopplung verschmelzen Teile des rnk- und des citG-Gens. Die Aktivität des rnk-Gens hängt nicht von der Gegenwart von Sauerstoff ab, und die Aktivität der rnk-citG-Fusion zerstört die Kontrolle des benachbarten citT-Gens (grün), wodurch es aktiv ist, unabhängig davon, ob Sauerstoff da ist, oder nicht. Die Originalkopie des citT (grau) bleibt in Anwesenheit von Sauerstoff

Von Mutanten lernen

Die Citrat-verwertenden Mutante war eine Möglichkeit, die Evolution in Echtzeit mit freiem Auge zu verfolgen: ein klares Kulturmedium trübt sich durch Millionen von Zellen, die buchstäblich in einer neuen Nahrungsquelle schwimmen und sich explosionsartig innerhalb von Stunden vermehren. Obwohl die allererste Mutation nur einen geringen Vorteil gegenüber der vorangegangenen Bakteriengeneration verleiht, reichte sie aus um den Reproduktionserfolg der Mutanten zu ermöglichen. In kurzer Zeit war die gesamte Population in der Lage, Citrat als Nahrungsquelle heranzuziehen.

Das ist nur ein Beispiel, wie uns die kurze Generationszeit von Mikroorganismen, gemeinsam mit unserer neu erworbenen Fähigkeit Genome rasch zu sequenzieren, in die Lage versetzt, die Auswirkung genetischer Varianten mehr oder weniger in Echtzeit zu verfolgen. Die Untersuchung dieser Meilensteine der Evolution an Mikroorganismen ermöglicht es Wissenschaftler/innen auch, evolutionäre Prozesse in anderen Organismen über lange Zeiträume zu verstehen, darunter die Entstehung neuer Arten.


References

Resources

Author(s)

Dr Jarek Bryk ist Lektor für Molekularbiologie an der University of Huddersfield im Norden Englands. Er unterrichtet Genomik und Evolution. Er untersucht, wie sich Allelfrequenzen in freilebenden Populationen von Holzmäusen und Wieseln verändern. Onlinebeiträge auf http://bryklab.net oder auf Twitter bei @jarekbryk.

Review

Die Evolution zu unterrichten ist eine unbedingte Notwendigkeit für die Erziehung von Schüler/innen zu biologisch gebildeten Bürger/innen. Für Lehrkräfte ist es oft schwierig, die Schüler/innen von dieser bedeutenden biologischen Theorie zu überzeugen, wodurch andere Hypothesen (z.B. der Kreationismus) in den Köpfen der Schüler/innen festsetzen können. Dieser Artikel liefert Lehrer/innen neue experimentelle Befunde zu den theoretischen Grundlagen der Evolutionslehre.

Der Artikel kann in jeder Klasse verwendet werden, die sich mit Evolution beschäftigt. Zusammenfassende Fragen, die den Schüler/innen gestellt werden sollten, sind z.B.:

  • Wodurch erwerben Organismen unterschiedliche Eigenschaften?
  • Beschreibe, wie genetische Unterschiede durch die natürliche Selektion beeinflusst werden.
  • Was bedeutet der Begriff „fit“, wenn er für die Beschreibung von Organismen verwendet wird?

Panagiotis K. Stasinakis, Biologielehrer der 4th High School of Zografou, Griechenland

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