Intersex: außerhalb der Norm Understand article

Übersetzt von Hildegard Kienzle-Pfeilsticker. Mann oder Frau? Um welche Themen geht es bei Kindern, bei denen die Antwort nicht klar ist? Die Forscher Eric Vilain und Melissa Hines hoffen, ein paar Antworten geben zu können.

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„Junge oder Mädchen?“ Das ist oft die zuerst gestellte Frage, wenn ein Kind geboren wurde und man geht in der Regel davon aus, dass die Frage leicht zu beantworten ist. Geschlechtschromosomen XY=Hoden und Penis=Junge; Geschlechtschromosomen XX=Eierstöcke und Scheide=Mädchen. Aber es ist nicht immer so einfach. Manche Kinder werden als Intersexe geboren, sind weder ganz Frau noch ganz Mann, sondern irgendwas dazwischen.

Äußerlich können sie beispielsweise wie eine Frau aussehen, obwohl die innere Anatomie eher der eines Mannes gleicht. Oder sie haben nicht eindeutige Genitalien: ein Mädchen kann eine besonders große Klitoris haben oder ihr kann die Scheidenöffnung fehlen; ein Junge kann mit einem besonders kleinen Penis geboren werden oder mit einem gespaltenen Hodensack, der eher wie Schamlippen aussieht. Darüber hinaus kommt in manchen Kindern ein genetisches Mosaik vor, so dass einige ihrer Zellen XX-Chromosomen enthalten, andere XY. 

Warum ist das so? Nun, es gibt viele Intersex-Typen und bis heute verstehen wir nicht alles, aber Genetik und Hormonspiegel im Mutterleib während der Schwangerschaft sind zwei bekannte Einflussgrößen.

In der griechischen
Mythologie besaß
Hermaphrodit, Sohn von
Hermes und Aphrodite,
körperliche Zeichen beider
Geschlechter.

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Um die Rolle der Genetik bei unserer Geschlechtsbestimmung zu untersuchen, werden Kandidatengene verändert und das Ergebnis auf den erwarteten Effekt hin geprüft. Aus ethischen Gründen kann ein solches Experiment nicht an Menschen durchgeführt werden. Stattdessen untersucht man Tiere. Professor Eric Vilainw1, Arzt und Genetiker an der Universität von Kalifornien, Los Angeles (UCLA) in den USA, ist ein Forscher auf diesem Gebiet.

Man glaubte üblicherweise, dass bei Anwesenheit eines Y-Chromosoms bestimmte Gene (sogenannte männlich-prägende Gene) dafür sorgen würden, dass sich ein Mann entwickelt. Ohne Y-Chromosom würde sich kein Mann entwickeln und daher – automatisch – eine Frau. Eric und seine Kollegen jedoch verwarfen diese Theorie als sie weiblich-prägende Gene entdeckten – Gene, die tatsächlich für weibliche Eigenschaften codieren (Jordan, 2003). „Wir haben gezeigt, dass Geschlechtsbestimmung viel häufiger über ein heikles Gleichgewicht männlicher und weiblicher Gene funktioniert,“ sagt Eric. Heute geht man davon aus, dass bei manchen Intersexen die Balance aus dem Gleichgewicht geraten ist.

Eine weitere gängige Ursache für Intersex bei Mädchen ist ein hormonelles Ungleichgewicht, bei dem ein genetischer Defekt die Ursache dafür  ist, dass die Nebenniere des Fetus sehr hohe Spiegel von Testosteron und anderen männlichen Hormonen produziert. Man nennt es kongenitale adrenale Hyperplasie (CAH). Professor Melissa Hinesw2, die diesen Zustand an der Universität Cambridge im UK erforscht, erklärt: „Das Testosteron bewirkt, dass die Klitoris größer wird und so sieht sie aus wie ein Zwischending zwischen einer Klitoris und einem Penis und es bewirkt, dass die Schamlippen anfangen, miteinander zu verwachsen, so dass sie aussehen wie ein Zwischending zwischen Schamlippen und Hodensack.“  Dieser Zustand wird bei Geburt erkannt und behandelt. Die Kinder wachsen als Mädchen auf. Die Behandlung besteht in der Normalisierung der Hormonspiegel, oft gefolgt von kosmetischen Operationen oder Operationen zur Behebung von Problemen mit der Harnröhre und der Scheidenöffnung.

Psychologische Probleme

Obwohl es für die meisten Intersex-Typen klinische Behandlungsmöglichkeiten gibt, sind sie mit psychologischen und ethischen Problemen verbunden. Eric ist ein Forscher, der darauf erpicht ist, Management und Wahrnehmung von Intersexen in der Gesellschaft zu verbessern.  

“Eltern sind durch die Geburt eines Babies mit nicht eindeutigen Genitalien stark belastet,” erklärt er. Der Eifer, das Kind „festzulegen“, kann zu einer frühen Operation am Genital führen – oft im ersten Lebensjahr. Dabei bleibt unklar, ob dies das Beste für das Kind ist. Kinder, die als Intersexe geboren werden, sind sich nicht sicher, dass sie sich zu einer Operation entschlossen hätten und können Schamgefühle entwickeln und haben Geheimhaltungstendenzen während sie aufwachsen. „Viele Patienten mit Intersex wurden bis ins späte Jugendalter nicht darüber informiert, was mit ihnen geschehen ist. Sie sind dann oft sehr erbost über ihre Familie, weil sie sie abgeschirmt hat.“ Frühe Operationen können auch schlechte Auswirkungen auf die Sexualfunktion im weiteren Verlauf des Lebens haben.

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Wäre es dann also besser, die Natur nicht zu korrigieren? „Wir wissen es wirklich nicht,“ sagt Eric. „Es gibt nur sehr wenige Patienten, die nicht daran operiert wurden, so dass wir nicht wissen, wie das Leben mit uneindeutigen Genitalien wäre. Möglicherweise ist es ebenso psychologisch problematisch.“

Aber wie steht es mit der sexuellen Orientierung: haben als Intersexe geborene Kinder Probleme, sich dem einen oder anderen Geschlecht zugehörig zu fühlen? Nein, sagt Eric. „Die meisten Menschen mit Intersex haben sich für ihre Zugehörigkeit entschieden.“

Verhaltensthemen

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Inzwischen interessiert sich Melissa dafür, welchen Einfluss CAH auf geschlechtstypisches Rollenverhalten hat – wie sich das Verhalten von Intersex-Kindern von dem typischer Jungen oder Mädchen unterscheidet – im späteren Leben. „Wir und andere haben herausgefunden, dass das Spielverhalten von Mädchen mit CAH sich von dem anderer Mädchen unterscheidet,“ erklärt sie. Ihr Team bewertet die Auswahl der Spielzeuge drei- bis achtjähriger Mädchen, die gleich nach der Geburt wegen CAH behandelt worden waren. „Die meisten Mädchen suchen sich eher Puppen als Fahrzeuge oder Waffen aus. Aber Mädchen mit CAH liegen dazwischen. Sie zeigen mehr Interesse an Jungen-typischen Spielzeugen und weniger Interesse an für Mädchen typischen Spielzeugen.“

Diese Forschung zum Verhalten mit CAH ist Teil einer größeren Studie zur geschlechtsspezifischen Entwicklung aller Kinder, die von Melissa geleitet wird. „Warum mögen Mädchen und Jungen verschiedene Spielzeuge? Warum tun sich gleichgeschlechtliche Kinder zum Spielen zusammen? Warum sind Jungs, sagen wir mal, gröber und unachtsamer als Mädchen?“ sind nur einige der Fragen, die sie beantworten möchte. Sie hat als Werkzeug den Vergleich von Spielverhalten und mütterlichen Hormonspiegeln während der Schwangerschaft ausgewählt.

Chemische Struktur von
Testosteron, das
hauptsächliche männliche
Sexualhormon.

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Männliche Feten produzieren zwischen der 8. und 24. Schwangerschaftswoche einen Testosterongipfel. Dieser flaut dann ab und der Testosteronspiegel bleibt bis auf einen kleinen Anstieg nach der Geburt in Jungen und Mädchen bis zur Pubertät etwa gleich. In einer Studie mit 14 000 Kindern hat Melissa herausgefunden, dass Mütter mit höheren Testosteronspiegeln während der Schwangerschaft eher Töchter bekamen, die maskuliner, aber noch im Normalbereich waren, und dass Mütter mit niedrigeren Testosteronspiegeln eher weniger maskuline Töchter hatten.

Mit den Beobachtungsstudien von Melissa kann man, im Gegensatz zu Erics ergänzendem, genetischen Ansatz, Menschen direkt untersuchen. Eric hofft, dass seine und die Forschung anderer über Formen von Intersex möglicherweise denjenigen, die aus dem von der Gesellschaft als normal empfundenen Rahmen fallen, das Leben leichter machen wird. „Ich wäre glücklich, wenn ich das Ziel erreichen würde, der Allgemeinheit zu vermitteln, dass alle diese Varianten sexueller Entwicklung, sexueller Orientierung und von Gechlechtsempfinden natürliche Varianten sind, und ich wäre glücklich, wenn sie gesellschaftlich akzeptiert werden würden, weil wir verstehen, dass sie natürliche Varianten sind.“

Geschlechtsbestimmung bei Mäusen

Wissenschaftler am Europäischen Molekularbiologischen Laboratorium (EMBL)w4 und am englischen National Institute for Medical Research entdeckten, dass wenn das Foxl2-Gen auf einem Autosom ausgeschaltet ist, sich die Eierstöcke erwachsener weiblicher Mäuse in für Hoden typische Zellen ändern.

Traditionell wurde angenommen, dass der Weg zum Weibchen  — die Entwicklung von Eierstöcken und all der anderen Merkmale, die ein Weibchen ausmachen – auf einem Mangel beruhte: wenn eine Embryo ein Gen namens Sry, lokalisiert auf dem Y-Chromosom hatte, würde er sich zu einem Männchen entwickeln; falls nicht, würde eine Weibchen entstehen. Aber in erwachsenen Tieren muss der Weg zum Männchen aktiv unterdrückt werden, fanden Mathias Treier und sein Team am EMBL heraus.

“Wir waren von den Ergebnissen überrascht,” sagte Mathias. „Schalteten wir die Foxl2-Gene in den Eierstöcken der weiblichen Mäuse aus, erwarteten wir, dass sie aufhören würden, Oocyten zu produzieren; es passierte aber etwas viel Einschneidenderes: somatische Zellen, die das sich entwickelnde Ei unterstützen, nahmen Eigenschaften von Zellen an, die üblicherweise sich entwickelnde Spermien unterstützen und die geschlechtsspezifischen Hormon-produzierenden Zellen schalteten auch von einem weiblichen zu einem männlichen Zelltyp.“

Diese Erkenntnisse werden weitreichende Folgen für die Reproduktionsmedizin haben und könnten zur Behandlung von Intersex-Kindern genutzt werden.

Weitere Einzelheiten sind dem Online-Interview mit Mathias Treierw5  und der Veröffentlichung zu entnehmen (Uhlenhaut et al., 2009).

EMBL ist Mitglied bei EIROforumw6, das Science in School publiziert.


 

Danksagungen

Dieser Artikel basiert auf Interviews, die Professor Eric Vilain und Professor Melissa Hines den Herausgebern von Science in School, Dr. Eleanor Hayes und Dr. Marlene Rau gegeben haben. Material wurde auch Melissa Hines’ Vorlesungw3 entnommen. Die Vorledung und die Intzerviews fandne während der Konferenz „Der Unterschied zwischen den Geschlechtern – von der Biologie zum Verhalten“ am Europäischen Molekularbiologischen Laboratorium (EMBL) in Heidelberg, Deutschland, statt.


References

Web References

Resources

Author(s)

Dr. Nina Notman ist Wissenschaftsjournalistin und Herausgeberin. Nach ihrer Doktorarbeit in Synthetisch-Organischer Chemie an der Universität Bristol, Großbritannien, begann sie eine Laufbahn im Publizistikbereich, wo sie den Peer-Review-Prozess einer Reihe von Journalen der Royal Society of Chemistry in Großbritannien managte. In dieser Zeit arbeitete sie für das Vorzeigemagazin der Gesellschaft, die Chemistry World. Anfang 2012 verließ Nina das Magazin und wurde freiberuflich tätig.

Review

Über Intersexe oder nicht eindeutige sexuelle Phänotypen wird üblicherweise nicht gesprochen, sowohl an der Schule als auch im Allgemeinen, weil eine Aura von Verlegenheit oder Scham oft die Erwähnung sexueller Pathologie umgibt.

Dieser Artikel, der auf Interviews mit zwei Forschern auf diesem Feld basiert, führt den Leser in dieses schwierige Thema mit klarer Sprache ein, wobei es einige der wissenschaftlichen und sozialen Aspekte hervorhebt. Ich schätzte besonders die Beachtung der psychologischen Folgen von  Intersex und die Themen rund um die Therapie und Erziehung von Kindern ohne eindeutige Geschlechterdifferenzierung.

Wie im Artikel beschrieben, ist die biologische Grundlage und das Management von Intersex ein sehr kontroverses Thema und bietet sich so für eine Diskussion in der Klasse an, besonders in den oberen Klassen der Sekundarstufe. Es würde besonders gut zu Biologie passen (z.B. menschliche Reproduktion) oder zu Geschlechtserziehung oder in Stunden zu bürgerschaftlichen Themen. Die Diskussion könnte viele soziale, kulturelle, bioethische und rechtliche Aspekte beinhalten, wie Geschlechts- und Genderidentität, die Rechte und Verpflichtungen von Eltern gegenüber einem Kind mit Intersex, das Prinzip der Selbstbestimmung von Patienten gegenüber medizinischen Behandlungen und die sozialen Aspekte von Personen mit Intersex.

Mögliche Verständnisfragen könnten sein:

  1. Welcher der folgenden Faktoren, der die sexuelle Entwicklung von Menschen beeinflusst, wird im Artikel nicht genannt?
    1. X- und Y-Chromosomen
    2. männlich und weiblich prägende Gene
    3. Alkohol während der Schwangerschaft
    4. Hormonspiegel während der Schwangerschaft
  2. Der Gegenstand von Melissa Hines` Forschung ist:
    1. Das Spielverhalten von CAH-Jungen.
    2. Das Spielverhalten von CAH-Mädchen.
    3. Die Rolle von Genen bei der sexuellen Entwicklung.
    4. Das Spielverhalten schwangerer Mütter.

Darüber hinaus bieten die Internetquellen nicht nur geeignete Informationen und Materialien für Schüler der Sekundarstufe an, sondern auch weitere Informationen über die Erforschung und das Management von Intersexen.

Ich empfehle diesen Artikel Lehrern in den Naturwissenschaften und Schülern der oberen Sekundarschulklassen, die Interesse an dieser üblicherweise geheimgehaltenen, körperlichen Beschaffenheit haben und motiviert sind, eine bessere soziale Akzeptanz von Leuten mit Intersex voranzubringen.

Giulia Realdon, Italien

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